Textbeitrag zur Ausstellung AUGE:EXPERIMENT
Jänner 2000
Die Rauminstallation Point of View von Melitta Moschik besteht aus zwei 134 x 66 cm großen, sandgestrahlten, in 6 cm tiefen Alu-Rahmen eingelassenen Spiegelglaswandobjekten, die einander schräg gegenüber angeordnet sind. Die Objekte zeigen Augenpartien, die Moschik den überlieferten fotografischen Porträts von Jean-Paul Sartre und seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir entnimmt. In ihren Ausmaßen überlebensgroß sind die Foto-Ausschnitte in einem Punktraster nach acht Graustufen aufgelöst. Den einzelnen Bildpunkten entsprechen in den Wandobjekten einzelne verspiegelte Kreise, deren Durchmesser dem Grauwert direkt proportional ist: große Kreise zeigen dunkle und kleine Kreise helle Bildpunkte an.
Auf komplexe Weise vernetzen sich hier einzelne Themenbereiche, wie sie mit dem Spiegelraster, den Augenpartien, den Porträtierten und auch im Titel des Werks aufgerufen werden. Der Begriff Point of View kündet in seiner doppelten Bedeutung als Standpunkt und Gesichtspunkt von den Ambivalenzen, mit denen der Rezipient konfrontiert wird.
Fotografisches Abbild und Spiegelbild überlagern sich und binden den Betrachter in ein diffiziles Spiel mit Virtualität und Realität ein. Real und virtuell gleichermaßen, als detailgetreue Wiedergabe eines bestimmten Umweltausschnitts oder als imaginäre Innenwelt, vermittelt uns das Spiegel-Bild eine Erfahrung an der Schwelle zwischen Wahrnehmung und Bedeutung. Vertieft wird diese gerade durch den Wechsel zwischen spiegelnden und opaken Flächen in Moschiks Objekten, welcher das Spiegelbild fragmentiert und damit interpretative, assoziative Vorgänge im Betrachter auslöst.
Die verspiegelten Rasterpunkte verbergen uns zunächst das Wissen darum, vor einem Spiegel zu stehen. Aus der Entfernung erkennt der Betrachter anfangs nur die Augenpartie Sartres, die beim Näherkommen verschwimmt und sich in die einzelnen Rasterpunkte auflöst. Der Spiegelraster erzeugt im sich verringernden räumlichen Abstand zwischen Betrachter und Bild die Erfahrung einer potentiellen Abwesenheit des fotografischen Bild-Objekts. Erkennbar wird dagegen der Betrachter selbst, der in der Bewegung des Gehens den sichtbaren Ausschnitt im Spiegel selbst wählt.
Im Gegensatz zur Fotografie ist das Bild, das der Spiegel hervorbringt, flüchtig, steten Veränderungen unterworfen, entsprechend dem Fluss der Ereignisse, die vor dem Spiegel stattfinden. Das Verhältnis des Spiegels zum Referenten, d.h. zum Abgespiegelten, ist stets bestimmt vom jeweils besonderen Moment.
Die Vorstellung eines magischen Spiegels, dessen Reflexionen auf der Oberfläche Bestand hätten, wird in der Fotografie Wirklichkeit. Foto und Spiegelbild verbindet die Annahme, dass sie die Wahrheit sagen und die Existenz eines Objektes bezeugen, das seine Abdrücke hinterlässt. Entscheidend ist jedoch der Umstand, dass die Fotoplatte die Lichtstrahlen in ein anderes Material überträgt, womit das fotografische Bild Autonomie und Zeichencharakter erlangt. Das Spiegelbild erzeugt den Eindruck von Virtualität, die Fotografie dagegen ist rein virtuell und erweckt den Eindruck von Realität.
So wie sich der Mensch, virtuell verdoppelt, im Spiegel selbst gegenübertritt, spiegelt er sich im Blick seiner Mitwelt. Ein Thema, dem sich Sartre ausführlich in seinem philosophischen Werk Das Sein und das Nichts widmet und auf das der verspiegelte Blick in Moschiks Objekten verweist. Im Blick des Anderen, in dem ich mich spiegle, dem ich ausgeliefert bin und der mich festlegt, werde ich (mir) selbst zum Objekt: Voraussetzung für die Entwicklung eines Bewusstseins meiner selbst.
Kerstin Braun