Kerstin Braun
Melitta Moschik USER LOCATION

Katalogtext zur Personalausstellung:
“Melitta Moschik USER LOCATION”
Februar 1999

Melitta Moschik übernimmt in ihrer Arbeit bereits existierende Codes, wie die in den elektronischen Medien hervorgebrachten Formen der Symbolisation. In der Installation User Location sind es die Rasterformationen der digitalen Benützeroberflächen, der sog. User Interfaces, die längst zum beruflichen wie privaten Alltag der meisten Menschen in den westlich industrialisierten Ländern gehören. In das oberste der hintereinander gestaffelten Felder aus Aluminium ist ein Acryl-Spiegel integriert, der den aktuellen Bewegungsfluß im Stiegenhaus der Neuen Galerie aufnimmt. Diese virtuelle Informationsarchitektur (Moschik), auf die das User Interface verweist, stellt die Künstlerin dem barocken Deckenfresko des Stiegenhauses entgegen. Damit vernetzt sie räumlich wie inhaltlich verschiedene Medien, traditionelle Malerei, analoge Spiegelung und digitale Codierung.
I
Grafisch gestaltete digitale Zeichenkonfigurationen, logisch strukturierte Informationsmuster entsprechen einer digitalen Landkarte, definieren den globalen Raum, in dem sich der User nach vorgebenen Regeln bewegen und positionieren kann. Schon in den 60er Jahren konstatiert der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Max Bense eine Wandlung der traditionellen architektonischen Systeme in semiotische: „Wir bewohnen nicht mehr nur Hauswelten, wir bewohnen auch Zeichenwelten. Denn wir bewegen uns nicht nur durch Straßenzüge, sondern auch durch Kommunikationskanäle.“ Der digitale Raum erweist sich als ein hierarchischer, subsummierender, als ein abstrakter, allgemeiner Raum, visualisiert in der Staffelung einzelner Raster, sog. „Fenster“. Diese zeitlich notwendige Reihenfolge, die den User in ein „Da“ oder „Dort“ versetzt, ist wie jede andere, z.B. die Schrift, ein räumliches Phänomen.
Der Nutzer navigiert im digitalen, rein audio-visuell präsentierten Raum nur mit Auge und Ohr in einem rechteckig umgrenzten Sehfeld. Das Rechteck ist seit jeher sowohl architektonisch für Schrift und Druck als auch für das Bildermachen konstitutiv. Der vierfach umgrenzte Raum des Feldes ist in der Installation als Spiegelfläche belebt durch die Verschiedenheit des in ihm Abgebildeten. Im digitalen Raum ist es als in sich geschlossenes, fugenlos markiertes Feld beherrscht von codierten Informationen.
Die Bildkommunikation erfordert neue Techniken des Denkens, der räumlichen und visuellen Wahrnehmung. (Moschik)
Kulturen bilden und verändern sich über ihre Verkehrsbedingungen. Sie reichen so weit, wie ihre Verständigungsmittel. Ernst Cassirer nannte den Menschen animal symbolicum, das Lebewesen, das über ein Bezeichnungsvermögen verfügt und über Zeichen kommuniziert. Von der Buschtrommel und dem Rauchsignal bis zum Cyberspace hat eine Fülle von Signaltechniken ganz verschiedene Wahrnehmungsvoraussetzungen geschaffen.
Das elektronische Netz, das jetzt gesponnen wird, überwindet globale Entfernungen mit großer Geschwindigkeit. Die Technik der beschleunigten Mitteilung an weitverstreute Empfängerzahlen drängt zur Vereinfachung der Kommunikationsmedien, der verwendeten Zeichen in Bild- und Sprachkürzeln.
Die visuellen Medien der Elektronik fordern dazu heraus, neue Typen einer Bilderschrift in der Zusammenstellung sprachlicher und nichtsprachlicher Signale mit vereinbarten Bedeutungen zu entwerfen, die dem Format der Bildschirme, deren Beleuchtungseffekten und dem Gebot globaler Verständlichkeit über Sprachgrenzen hinweg zu genügen vermögen. Ihre Zeichen, Symbole sind eindeutig. Optische Schemata, graphische Stereotypen, von Informationsdesignern bzw. Signaltechnikern entworfen, optimieren den Informationsfluß, verbessern die Wahrnehmung, ermöglichen eine raschere Mustererkennung. Seit dem 17. Jahrhundert, der Zeit des europäischen Imperialismus, gibt es Versuche, Universalsprachen zu schaffen, die gleichzeitig vereinfachen und vereinnahmen.
Das simultane, integrale Bild, das die visuelle Kommunikation im digitalen Raum bestimmt, erweist sich in seiner Eindeutigkeit den Sprachen überlegen. Bilder stellen ein Ganzes gleichzeitig dar. Sie können – wie es die Philosophin Susanne Langer formuliert – nur durch die Bedeutung des Ganzen verstanden werden, „durch ihre Beziehungen innerhalb der ganzheitlichen Struktur. Daß sie überhaupt als Symbole fungieren, liegt daran, daß sie alle zu einer simultanen, integralen Präsentation gehören. Wir wollen diese Art von Semantik präsentativen Symbolismus nennen, um seine Wesensverschiedenheit vom diskursiven Symbolismus, das heißt von der eigentlichen ‚Sprache‘ zu charakterisieren.“ Doch Bilder als präfabrizierte, vereinheitlichte Stereotypen schließen auch aus. Sie können nicht wie die Sprache in ihrem Diskurs von Spruch und Widerspruch neue Gesichtspunkte zu Wort kommen lassen. Weltweit erlernen wir heute die Bilderschrift von Silicon Valley und anderer Signaltechniker, in der das machtpolitisch Inbegriffene nicht kenntlich wird. Dennoch wird diese die professionelle, gesellschaftlich-soziale Praxis ihrer Benutzer beeinflussen. Das semiotische Umfeld umschließt jeden einzelnen. Das Mediennetz perfektioniert die Abstraktion. In ihm triumphiert das Zeichenvermögen, das alles Bezeichnete abstrahiert, als Ausdruck eines globalen Bemächtigungsdranges.
II
Der Spiegel, in den der Mensch bewußt einen Blick wirft, dient der Selbstkontrolle, auch der Selbstvergewisserung in einem stillen, intimen Dialog mit dem eigenen Selbst. Aber der Spiegel sieht auch alles. Er ist ein ständiger Beobachter. Moschiks Spiegel erinnert an solche, wie sie an öffentlichen Orten ebenfalls in erhöhter Position angebracht sind. Sie haben die Aufgabe, als Kontrollspiegel menschliches Wohlverhalten zu überwachen. Sie entziehen sich dem menschlichen Dialog-Blick und spiegeln – zur Überwachung instrumentalisiert – reale Situationen aktuell wider, bilden die Umgebung, auf die sie gerichtet sind ab, neutral, passiv, vorurteilslos, mithin objektiv. Derjenige, der das Stiegenhaus der Neuen Galerie betritt, als Ausstellungsbesucher oder als Angestellter, wird über sein Spiegelbild Teil der Installation und damit Teil des digitalen Rastersystems. Dieses aber verweist auf die globale Vernetzung und damit auf eine Totalisierung von Öffentlichkeit über die Grenzen lokaler Örtlichkeit hinaus.
Der Spiegel wirft gleichbleibend das zurück, was man ihm vorsetzt. In ihm fixiert sich der flüchtige Lebens-Augenblick. Genau und flüchtig zugleich. Denn die gespiegelten Bilder vergehen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Zurück bleibt eine leere, besetzbare Fläche. Selber unsichtbar, immaterieller Stoff, wird der Spiegel erst sichtbar, wenn er Anderes spiegelt. Der Spiegel in seiner leeren Offenheit ist ein Zwischenraum der Zeit, Realmetapher für ein Loch im Raum-Zeit-Kontinuum. „Was er liefert, ist das Integral über die Summe unendlich kleiner Zeitdifferenzen, den Eindruck oder die Illusion, als seien die übersprungenen Löcher zwischen Jetztpunkt und Jetztzpunkt von einer feineren Verkettung ausgefüllt, unendlich fein und engmaschig, so daß Zeit immer schneller ins Stottern gerät, bis sie als Kontinuum fließend steht.“ In Analogie dazu steht das elektronische Netz, die totale Vernetzung weit auseinanderliegender Raumpunkte, welche globale Entfernungen augenblicklich überwindet und in der Auflösung des Raum-Zeit-Kontinuums den rasenden Stillstand begründet, vom dem Paul Virilio spricht.

Der Spiegel, Instrument der Wahrheit und Produzent von Illusion gleichermaßen, wurde immer wieder als Gleichnis herangezogen bei der Frage danach, wie der Prozeß der Wahrheitsfindung – in materieller oder spiritueller Hinsicht – zu visualisieren sei. Die Neuzeit mit ihrem zunehmenden Interesse an naturtreuer Mimesis säkularisiert das Sakrale. Sie erörtert die Analogie von Malerei und Spiegel und versucht, den Anspruch der Malerei, exakte Kopie der Natur zu sein, durch eine Fusionierung von Wissenschaft und Kunst umzusetzen.
Das am Spiegelbild orientierte Bild bezeugt. Der Maler wird zum Zeugen realer Verhältnisse mit wissenschaftlichen Methoden. Deren Einsatz jedoch führt auch zu einer Bemächtigung des Realen durch seine rationale Konstruktion. Während das gemalte Reale demgemäß als Sinnbild zu interpretieren ist, das ein wissenschaftliches und/oder ein allegorisches Konzept voraussetzt, wird im Spiegelbildlichen mit dem Anspruch auf Authentizität das Sinnbildliche geleugnet.
Im Gegensatz zum künstlerisch gestalteten Abbild sehen wir im Spiegel nicht das Bild des Phänomens, sondern das Phänomen selbst – allerdings als sein Spiegelbild, das das Bild des Spiegels als Medium ist. Der Spiegel vergrößert oder verkleinert, verzerrt sonstwie und macht damit deutlich, daß die Abbildung immer auch eine Codierung des Abgebildeten bedeutet, daß das Abgebildete den Bedingungen des Mediums unterworfen ist und sich als eigene Realität konstituiert.
Der Spiegel in Moschiks Installation ist gleichzeitig ein geöffnetes „Fenster“ in die virtuelle Welt, d.h. er holt die lokale, konkrete Realität im Abbild als Bild, d.h. mediatisierte Wirklichkeit, in den digitalen, globalen Informationsraum.
Aus dem Spiegel als Möglichkeit der Selbstversicherung, der Selbsterkenntnis des autonomen Subjektes wird ein Instrument der Abstrahierung, der Anonymisierung einerseits und der genauen Positionierung des Subjekts andererseits. Die Lokalisation des Individuums an einem realen Ort, ausgezeichnet durch Identität, Relation und Geschichte, kurz durch seine Besonderheiten, führt zur Möglichkeit seiner Ortung im virtuellen Raum der digitalen Welt, der gleichzeitig der anonyme, der Ort-lose, der Nicht-Ort im Sinne Augés ist. Der Benützer/der Besucher, der über den Spiegel registriert wird, wird in die hierarchischen Informationsstrukturen gezoomt, verschwindet als immaterielles Abbild seiner selbst in diesen elektronischen Weiten, im elektronischen Endlosraum (Moschik). Er verliert sich buchstäblich darin und wird verfügbar. Die totale Veröffentlichung impliziert die totale Verfügbarkeit, wie sie sich im Begriff der User Location andeutet.
III
Der ursprüngliche Raum-Begriff, noch im Verb „räumen“ kenntlich, bedeutet leer geräumter, von Dingen befreiter Platz. Raum als Leere in bestimmter Ausdehnung, die Leere als Möglichkeit von Entfaltung, als etwas, das selbst nichts ist, aber anderem ermöglicht, sich zu realisieren, findet seine Entsprechung im Spiegel als erst zu besetzende Leerstelle. Beide, Raum wie Spiegel, sind virtuell in ihrem Potential der Verwirklichung, der Konkretisierung.
Literatur und Kunst des Barock begeistern sich für das Motiv des Spiegels. Die meisten Paläste waren reich mit Spiegeln verziert, verfügten sogar über einen eigenen Spiegelsaal. Der Spiegel – im Bereich der Architektur eingesetzt – erweitert den Raum optisch, genauso wie das barocke Gemälde dem Betrachter einen anderen, imaginären Raum des Scheins eröffnet. Der Raum, wie er angesichts des barocken Deckenfreskos mit seinen weiten Landschaften unter grenzenlos sich ausdehnenden Himmelsausschnitten zu definieren ist, konstituiert sich in der kompositorischen (An)Ordnung körperlicher Objekte. Der Raum ist das Medium, in dem die Dinge Leben annehmen, sich zu bewegen beginnen, zum Träger von Lichteffekten und atmosphärischen Erscheinungen werden.

Etwas haben das barocke Deckengemälde mit seiner Scheinarchitektur und die den virtuellen Raum definierenden Zeichenkonfigurationen gemeinsam: der Betrachter/der User kann sich hier wie dort auf imaginäre Weise in einem imaginären Raum bewegen. Nimmt er das Gemälde jedoch durch sinnliche Anschauung des Dargestellten in einer bestimmten räumlichen wie zeitlichen Situation wahr, in der er sich als Individuum befindet, setzt Bewegung und Wahrnehmung im virtuellen Simulationsraum die Dissoziation des autonomen Subjekts, seine Entköperlichung voraus. Die „Raum-Zeit“ der sinnlichen Erfahrung von Ort und Bild wird ersetzt durch die des Nicht-Ortes der „Raum-Geschwindigkeit“ technischer Telekommunikation. „Sein [des Menschen] Körper wird an seinem Platz bleiben, währenddessen sein Geist (mind) in die elektronische Leere hinausschwebt und überall zugleich in den Datenbanken ist. Der körperlose Mensch ist so schwerelos wie ein Astronaut, er kann sich aber viel schneller bewegen. Er verliert das Gefühl von persönlicher Identität, weil die elektronischen Wahrnehmungen nicht an einzelne Orte gebunden sind.“
IV
Die von Moschik verfolgte Thematik der formalen Struktur von Ortung des Users in lokalen wie globalen Räumen, welche sich im Spiegelbild überlagern, wirft Fragen nach deren strukturellen Eigenschaften ebenso auf, wie die nach inhaltlichen Implikationen, motiviert zu Überlegungen, das historisch wechselnde Verständnis bildnerischer Repräsentation betreffend, führt aber vor allem auch zu aktuellen Problemen: dem fortschreitenden Verschwinden des anthropolgisch-geographischen Bezugraumes zugunsten einer audio-visuellen Steuerung (und letztlichen Kontrolle) des Menschen, dem Verlust des realen Raumes der körperlichen Aktivität durch eine virtuelle Präsenz in einer virtuellen Umwelt in einer imaginären Zeit. Die philosophische Frage heute lautet nicht mehr „Wer bin ich wirklich?“, sondern „Wo befinde ich mich, wenn ich überall bin?“
Kerstin Braun