Melitta Moschik – Image Research
Melitta Moschiks Projekt “Image Research” befasst sich mit analogen und digitalen Bildstatistiken, mit den Methoden und Qualitäten visueller Transformationen vor dem Hintergrund der Realitätserfassung und der sozialen Praxis.
Melitta Moschik zitiert aus den heterogenen, spezifischen Zeichenvokabularen der Mathematik, der statistischen Diagramme und der elektronischen Bildübermittlung. Bereits in früheren Arbeiten hatte sie Signifikanten der postmechanischen Industriekultur thematisiert: die Leiterplatte und die serielle Schnittstelle.
Die materialen Träger dieser Bildinformation stammen aus dem technisch-gewerblichen Bereich, sind präzis gefertigt, doch fern der aktuellen Hochtechnologie: Chromnickelstahlkästen, sandgestrahlte und verspiegelte Gläser. Die Finalproduktion wird weitgehend an außerkünstlerische professionelle Instanzen delegiert. Künstlerische Handschrift bleibt ausgeschlossen. Die Hand wird nicht durch den Pinsel verlängert, wie in der Malerei, sondern durch die Tastatur des Computers.
Der oftmalige Wechsel der Medien von der fotografischen Erfassung über die digitale Zerlegung und die visuelle Aufbereitung bis zur bildhaften Vermittlung ist so ausgerichtet, dass die Übertragungsverluste die redundante Bildinformation tilgen und die Kerninformation klären und schärfen. Das ist ein Prozess der Extraktion von Teilmerkmalen der Ausgangsinformation. Im mehrfachen Transfer in unterschiedliche Medien kann sie durch die jeweils medialen Eigenheiten soweit überlagert werden, dass sie als Grundinformation zurücktritt. Die medialen Eigenheiten im elektronischen und statistischen Transfer sind durch ihre Bildökonomie geprägt – ein visueller Informationsüberschuss kommt primär im Extremwert des Rauschens vor. Die Fremdheit des Bildes beginnt, sobald der Wechsel nicht nur zwischen den Medien, sondern zwischen den Transformationssystemen vollzogen wird; oder wenn die Least- und die Mostsignificant- Ebene oder eine einzige Speicherebene der Graustufen das Bild repräsentieren. Die konstante Summe der übertragenen Informationseinheiten bedingt nicht die Konstanz der Anschaulichkeit. Merkzeichen, die das Wiedererkennen gewährleisten, sind primär als Form gespeichert. Weil sie als Zeichen Form sind, verlieren sie bei der Transformation – der Umwandlung der form – den Grossteil ihres ursprünglichen Zeichengehalts.
Melitta Moschik überträgt das mathematische Symbol der eckigen Klammer in die Stahlplastik. In der mathematischen Zeichenkonvention legt die Klammer [ ] den Umfang einer Menge fest. In diesem sinn definiert sie auch die gesamte Ausstellung „Image Research“, an deren Beginn sie steht, als Datenkörper. An ihrem Ende positioniert Melitta Moschik als – Gegenstück die offene klammer] [, die alle ihre folgenden Daten als nicht mehr zur Menge gehörig klassifiziert. Damit deklariert Melitta Moschik Kunstwerke, ihre Eigenen und Fremde, als Daten und die Galerie als Datenraum. Das Werk wird als Menge visuell vermittelter Information begriffen.
Die Klammer [ ] wird als Plastik auf 100 cm vergrößert, und in die Achse des Ausstellungsraumes gerückt, die mit der Gehlinie zusammenfällt. Der Besucher kann ihr ausweichen oder zwischen den beiden Klammern [ ] durchgehen. Dann wird er zum Element jener Menge, welche die Klammer [ ] bezeichnet; er gehört dem Datenkörper der Ausstellung an. In dieser Interaktion wird Mathematik metaphorisch und trifft rezeptionsästhetische Aussagen: der Betrachter ist in die Totalität des Werkes integriert. Umschreitet er dagegen die Klammern, sieht sie ohne zu interagieren als Gegenüber und als plastisches Objekt, dann bleibt die Klammer [ ] leer und definiert die leere Menge.
Die plastische Form der Klammer [ ] weist Affinitäten zu den X- Ray-Toren der Flughäfen und den Detektordurchgängen im Kassenbereich der Kaufhäuser auf, die jeden Flug”gast” zum potentiellen Erpresser und jeden Käufer zum potentiellen Dieb deklarieren.
Eine Infrarot-Schranke löst beim Durchgehen einen Piepston aus; die Projektvariante sieht auch ein elektronisches Zählwerk vor, das die Passierenden numerisch erfasst. Der Piepston meldet den Eintritt in den Datenraum und ist zugleich seine Reduktionsstufe.
Er ist das Signal einer Registrierung, die ihre Zielsetzung verschweigt. Die punktuelle Versinnlichung eines Datenkörpers im kurzen Ton und die Universalität der Mathematik verlieren ihre Unschuld im Kontext der Überwachung und Bewegungskontrolle, deren transpersonale Form die quantifizierende Beschreibung ist. Auf ihren Gerätecharakter zurückgeführt enthält die Klammer auch die negativ belegte Konnotation eines Instruments der Zwangsausübung und Behinderung.
In den analogen Bildstatistiken greift Melitta Moschik auf die piktorialen Methoden zur Darstellung von Mengenverhältnissen zurück. Sie sind in einer Allianz von Grafik-Design und Informationstheorie entwickelt worden und finden im außerkünstlerischen Bereich Anwendung. Das suggeriert einen zweckorientierten Einsatz. Melitta Moschiks Diagramme basieren nicht auf konkreten Relationen; sie koppelt die Ebene der Darstellung von den Sachverhalten ab, die sie zu visualisieren hätte. Das Diagramm wird zum Bild ohne reales Vorbild. In die Sphäre der Ästhetik verlagert wird es, ohne Fakten zugeordnet zu sein, zum Ornament, auch zu dem der Masse. Ungeachtet der statistischen Frisierkunst genießt das Diagramm einen hohen Kredit, der den Realitätsbezug geradezu voraussetzt, auch wenn es auf fiktivem Zahlenmaterial beruht. Auf der Vermittlungsebene ist die Differenz nicht nachzuweisen.
Melitta Moschik macht demonstrativ jede Hinterfragung des Wahrheitsgrades unmöglich, indem sie die Relationen veranschaulicht, ohne die Bezugsgrößen zu nominieren. Wenn eine Zuordnung von Darstellung und Sachverhalt nicht realisierbar ist, kann die Glaubwürdigkeit des Diagramms nur aufrecht bleiben, wenn seine Aussage den höchstmöglichen Grad der Allgemeinheit erreicht. Und der ist für statistische Belange in der Gauß’schen Kurve formuliert, die auch die Mengenverhältnisse in der nach dem Mathematiker benannten arbeit bestimmt.
Anstelle von Block- oder Stabdiagrammen benutzt Melitta Moschik in dieser Werkgruppe Piktogramme: armlose, parallelbeinige menschliche Figuren, denen jede Artikulationsmöglichkeit fehlt. Statisch und eigenschaftslos verkörpern sie den Statisten, der geeignet ist, mit allen möglichen statistischen Inhalten besetzt zu werden.
“Binary tree” gibt mit Hilfe der Piktogramme ein hierarchisches Schema wieder: sie sind in einer breiten Pyramide angeordnet, deren Basis voll bestückt ist und deren obere Ränge schütter sind. Eine Schautafel arbeitet mit einer Monokultur gleicher Figuren, die andere differenziert zwei Typen. Die formale Unterscheidung sagt aber nicht aus, was sie statistisch besagt. Die Klarheit der binären Divergenz schlägt um in ein Enigma, sobald dem Schema eine zeitliche Funktion unterlegt wird, die ein dramatisches Eindringen von Fremdkörpern in die zuvor homogene Hierarchie als Lesart zulässt.
Die Figuren sind rückseitig verspiegelt, so dass sich der Betrachter des Diagramms in ihnen reflektiert und zwangsläufig die bislang anonyme Information personalisiert. Das Bild des Wirklichen wird in das mathematische eingespiegelt. Der Anonymisierungsanspruch der Statistik ist nur durch die Vielzahl der eingespiegelten realen Personen haltbar, weil erst sie die Differenzen egalisiert.
In der Werkgruppe der digitalen Bildstatistiken verwendet Melitta Moschik ein einziges Sujet – ihr Selbstporträt. Dabei ist das Thema weniger die Wiedergabe des Bildes als das Erkennen von Bildmustern. Dieses Erkennen ist stets ein Wiedererkennen durch den Vergleich mit gespeicherter Bildinformation. Während das Sujet für die digitale Mustererkennung durch den Rechner gleichgültig ist, da er nur die Verteilung der Hell/Dunkelwerte registriert und auf Kongruenzen absucht, identifiziert der Mensch bei der Mustererkennung Gesichter am leichtesten. Dabei reagiert er auf die Gestalt der Merkmale, d.h. auf Konturcharakteristika und die geometrische Struktur, nicht aber auf Graustufen, wie die digitale Methode der Identifikation es tut.
Die moderne Überwachungskultur bedient sich dieser Errungenschaften von der elektronischen Abbuchung der Autobahnmaut bis zur Fahndungstechnik. Dabei ist es theoretisch möglich, ein generiertes Referenzbild zu speichern, zu dem es kein reales Vorbild gibt.
Melitta Moschik zerlegt das fotografische Bildnis in acht Graustufen, die jeweils auf einer Glasplatte durch Sandstrahlung der Pixel wiedergegeben werden. Hintereinander gestaffelt enthält die erste Platte die Verteilung der hellsten Partien, die letzte die der schwarzen; für die dazwischenliegenden Platten werden die mittleren Grauwerte gestaffelt ausgefiltert. Während die einzelnen Pixelebenen kaum eine Mustererkennung zulassen, wird der Kopf in der orthogonalen Durchsicht der acht Scheiben wieder identifiziert. Die Pixelebenen werden optisch addiert und erlangen auch eine Grauwertabstufung durch den Lichtabfall zwischen den acht Plänen, obwohl die sandgestrahlten Felder jeweils dieselbe Helligkeit aufweisen.
Ändert sich der Blickwinkel, dann überlagern die Pixel einander nicht mehr zum Porträt. Die Bildinformation geht im Rauschen unter, wenngleich die Summe der visuell codierten Informationseinheiten konstant bleibt.
Der gleiche Effekt tritt beim Distanzwechsel auf: geringer Betrachterabstand erschwert die Mustererkennung.
Die Tiefenstaffelung der acht Scheiben mit der spezifischen Information der ihnen zugeordneten Grauwertverteilungen ergibt einen physischen Körper, der mit der Systematik des Datenkörpers korreliert. Der binär vorgehende Rechner unterscheidet zwischen Stromfluss und Unterbrechung des Stromflusses; dem entspricht im gläsernen Körper die Durchlässigkeit für das Licht oder seine Streuung in den sandgestrahlten Partien.
Der durch die Zwischeninstanz des Fotos eingeebnete plastische Kopf wird durch das Splitten der digital erfassten HeIligkeitsverteilung wieder verräumlicht – allerdings nach dem Ordnungsprinzip der Graustufe, das eine stereometrische Fixierung der dargestellten Gesichtspartie ignoriert: realiter weiter vorn liegende Partien, wie die dunklen Lippen oder Brauen, werden in der hintersten Scheibe registriert; das nebeneinanderliegende Weiß und das Schwarz des Augapfels wird räumlich getrennt und dem vordersten bzw. hintersten Plan zugeordnet. Trotz der deutlichen Materialität des Zeichenträgers Glas erscheint der plastische Körper des Kopfes immateriell, da die bildwirksamen Zeichen, die Pixel, zwar auf den einzelnen Ebenen materialisiert werden, aber in der Durchsicht die Wirkung des gestreuten Lichts dominiert. Dass es sich im digitalen Selbstporträt primär um einen Datenraum handelt, der nur bei bestimmten Ordnungsprinzipien eine mimetische Funktion erfüllt, beweist die Rückansicht des Scheibenstapels: sie zeigt nicht etwa wie eine Porträtskulptur die Rückseite des Kopfes, sondern das Gesicht von hinten, verbunden mit der Umkehr der Hell/Dunkelwerte.
Melitta Moschik thematisiert die Unanschaulichkeit des Datenraums in der verwandten Arbeit “Ram”, wenn sie die acht Bit-Ebenen auf acht Scheiben zwischen die klammern [ ] einspannt und für einen Blick unzugänglich macht.
In “Data Flow” wechselt der Darstellungsmodus der HeIligkeitsverteilung des Porträts. Statt sie gestaffelt einzelnen Plänen zuzuordnen, werden sie in Stabdiagrammen wiedergegeben. Die Übertragung der Daten von einem visuell vermittelten System in ein anderes ändert hier nicht die Anzahl der Informationseinheiten, wohl aber den Grad der Anschaulichkeit. Die acht Stabdiagramme geben Auskunft über die Graustufenwerte, lassen aber ihre Position nur mehr rechnerisch erfassen und nicht mehr visuell. Sie korrelieren nicht mehr mit dem Ausgangsbild. Die quantitative Erfassung der Pixel erfolgt um den Preis ihres Ortsverlustes, mit dem auch die Mustererkennung schwindet. Paradox scheint die Inversion des Naturalismusprinzips, wenn die größtmögliche Exaktheit in der Beschreibung des Naturvorbildes in die abstrakte Visualisierung umschlägt.
Die digitale Mustererkennung ist ein reduktives Verfahren, bei dem die Komplexität des Identifikationsobjektes aufgelöst wird. Die Deskription erfolgt auf Grund einer Fülle von Entscheidungen. Die auf dem Ja/Nein- Prinzip beruhen. Dem entsprechen in der Elektronik der Stromfluss und seine Unterbrechung und in der binären Mathematik die Optionen von 0 und 1. Die Simplizität der Entscheidungsstruktur wird in der Datenverarbeitung durch die hohe Operationsgeschwindigkeit kompensiert. Unkompensierbar bleibt bei einer Fixierung auf die Entscheidungsstruktur des Ja/Nein der Verzicht auf das Argument. Er begründet das Ende des Diskurses.
