Monografie: Textbeitrag 2015
Melitta Moschik – Touching Reality
Die Ausstellungen von Melitta Moschik aus den letzten Jahren trugen Titel wie „Reality Shapes“, „Realität und Abstraktion“, „Desiring the Real“ oder aktuell „Touching Reality“. Doch was genau wird mit „Reality“ begehrt oder berührt? Was ist Realität, oder sollte man besser fragen, welche Realität ist gemeint?
Konstruktion der Wirklichkeit
Sehen heißt konstruieren. Das, was wir gemeinhin für Realität halten, ist nur eine Interpretation des Gehirns. Wir gehen an die vermeintlich „da draußen“ liegende Wirklichkeit immer mit gewissen Grundannahmen heran, die wir für bereits feststehende „objektive“ Aspekte der Wirklichkeit halten, während sie nur die Folgen der Art und Weise sind, in der wir nach der Wirklichkeit suchen.[1] „Indem wir der Welt in ihrem bestimmten So-Sein gewahr werden, vergessen wir, was wir unternahmen, um sie in diesem So-Sein zu finden; und wenn wir zurückverfolgen, wie es dazu kam, finden wir kaum mehr als das Spiegelbild unserer selbst in und als Welt“, schrieb 1975 der noch junge Biologe, Philosoph und Neurowissenschafter Francisco Varela.[2] Was wir daher für real halten, hängt stark von unserer persönlichen Deutung ab, und damit von den kulturellen Prägungen unserer Wahrnehmung. So etwas wie eine objektiv betrachtete Realität gibt es nicht. „Objektivität ist die Wahnvorstellung, dass Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden können.“[3] schrieb Heinz von Foerster, österreichischer Physiker und einer der bedeutendsten Vertreter des radikalen Konstruktivismus. Dessen Grundphilosophie lautet dezidiert, dass Wirklichkeit nicht objektiv gegeben ist, sondern sozial oder individuell erzeugt bzw. konstruiert wird, eine Tatsache, die durch die neuesten Erkenntnisse der Quantenmechanik und Neurophysiologie unterstützt wird.
Und zugleich leben wir in einer Zeit, in der Experten bei der Beschreibung unserer Wirklichkeit von Molekülen und ihren Geschwindigkeiten und den Wahrscheinlichkeiten ihrer Anordnung sprechen, von Elektronen und ihren Aufenthaltswahrscheinlichkeiten und von Elementarteilchen und hochfrequenten Wellen. Der deutsche Philosoph Max Bense hat in diesem Zusammenhang bereits 1949 von einer technischen Existenz gesprochen, die „keine Landschaften und Gärten, keine Häuser am sanften Hang oder auf der leichten Dünung“ mehr bewohnt, sondern „ein Netz von sichtbaren und nicht sichtbaren Funktionen und Relationen, Strukturen und Aggregaten aus Metallen und künstlichen Gesteinen, die sie Dörfer, Städte, Staaten und Kontinente genannt haben.“[4]
Die Frage, die daher am Anfang dieses Textes stehen muss, lautet: Wie nehmen wir Realität wahr? Und damit sind nicht die biologischen und neurologischen Voraussetzungen des menschlichen Körpers gemeint, sondern die medialen Schnittstellen, die wir zwischen uns und unsere Umwelt stellen.
Berührung der Wirklichkeit
Die titelgebende Arbeit des Kataloges ist ein Triptychon aus Acrylglas, das in Form und Oberfläche dem Erscheinungsbild der omnipräsenten Smartphones angeglichen ist, ja den signifikanten Umrissformen sogar „maßstabsgetreu“ (Moschik) angepasst wurde. Die Bildobjekte „vermitteln dem Betrachter intuitiv die Bildfläche als Trägerfläche von Information“, wie Melitta Moschik erläutert und rufen im postmedialen Zeitalter in Erinnerung, dass Kunstwerke zu allen Zeiten Träger von Wissen und Information waren.
Im Mittelteil steht auf der glänzenden Oberfläche des Acrylglases das Satzfragment „Berührung der Wirklichkeit“ zu lesen, das genau auf jene mediale Schnittstelle, jenes Interface zwischen uns und unserer Umwelt, verweist, das unsere Wahrnehmung prägt. Wir nehmen die Welt mehr und mehr über Displays war, nicht nur durch die unvermeidliche Arbeit am Computer in Beruf und Alltag, sondern auch in unserer Freizeit. Sehen wir einen stimmungsvollen Sonnenuntergang, eine erhabene Gebirgsszenerie oder eine schöne Blumenkonstellation, dann genießen wir nicht mehr den berauschenden Anblick und versuchen den Moment in unserem Gedächtnis als herausragend abzuspeichern, sondern wir zücken unsere Smartphones, fotografieren das Dargebotene, um die Bilder davon sogleich in den sozialen Medien zu verbreiten. Nicht der Blick in die Natur, sondern der Blick auf das Display, das in die Natur gehalten wird, kennzeichnet unser Wahrnehmungsverhalten. Das Erleben und Erinnern wird ausgelagert.
Das Werk wartet zudem mit einer Vielzahl an kunsthistorischen Referenzen auf, von denen zumindest drei kurz erwähnt werden sollen: Formal betrachtet, handelt es sich um drei Bildobjekte, die in einer Traditionslinie zu den minimalistischen Tendenzen der Nachkriegsavantgarde stehen, nur, dass Moschik der rigiden Ausrichtung der Minmal Art mit ihrem absolutistischen Diktum des „what you see is what you see“ (Frank Stella) mit der Ironie der Nachgeborenen antwortet. Aus dem selbstreferenziellen specific object wird ein klar codiertes Bildzeichen, dessen allgemein verständliche Referenz in der Alltagskultur liegt.
Die Materialität des Acrylglases und die Analogie zu den Smartphones, den neuen Fenstern zu unserer Wirklichkeit, lässt an die lange kunsthistorische Tradition der Fenster-Metapher im Zusammenhang mit Bildtheorien von Ausblick, Wirklichkeit und Mimesis denken. Seit Leon Battista Alberti in seinem Theorietraktat über die Malerei (De pittura) 1435 die Metapher vom Bild als einem offenen Fenster zur Welt postuliert hatte, ist das Fenstermotiv verknüpft mit einer an die Zentralperspektive gebundenen Illusionsmalerei. Diese Auffassung ändert sich erst in der Moderne grundlegend und Moschiks fenstergleiches Display gibt auch keinen Ausblick auf die Wirklichkeit frei, sondern reflektiert sie in der spiegelnden Oberfläche.
Und schließlich ist das Bildformat des Triptychons in der abendländischen Kunst seit dem Mittelalter als Altar- und Andachtsbild codiert. Das signifikante Format verleiht der Bildaussage einen geradezu überzeitlichen Charakter und eine fast schon metaphysische Dimension. Poinitert formuliert ersetzt das Smartphone den Altar und wir addressieren unsere Heilserwartungen fortan an das World Wide Web.
Das minimalistische Triptychon von Melitta Moschik verweist auf einen neuen kulturellen Raum, der sich in dem, was gemeinhin als Cyberspace bezeichnet wird, gerade ausbildet. Die von uns momentan wahrgenommene Realität ist nur ein Modell des Möglichen, denn wir leben in einer Welt des Vorläufigen und Tentativen, in dem selbst die vorgestellten und simulierten Welten nicht mehr auf der Imagination des Menschen, sondern auf den Prozessoren der Rechenmaschinen beruhen. Die Durchdringung von digitalen und analogen Lebenswelten lässt offene Übergänge und Bruchstellen zutage treten, für die es noch keine adäquaten Lösungen zu geben scheint. Hier setzt die Arbeit „Human Interface“ an, die uns Wundpflaster für unser semi-virtuelles Dasein anbietet. Aus dem gleichen Material wie die Handydisplays gestanzt, setzt Moschik auf die universelle Lesbarkeit der abstrakten Formen, die von Momenten der Verletzung bei der Berührung der Wirklichkeit künden. Der Wundschnellverband wurde ungefähr zur gleichen Zeit entwickelt als sich in der modernen Kunst die geometrisch-abstrakte Formensprache ausbildete. Durch die Monumentalisierung und Transferierung in ein anderes Material erscheinen uns die vertrauten Formen zuerst als abstrakte Bildobjekte, die sich erst auf den berühmten zweiten Blick in ihrer Zeichenhaftigkeit erschließen. Moschik isoliert in ihrem Oeuvre immer wieder vertraute Zeichen aus ihrem angestammten Gebrauchszusammenhang, verändert deren Dimension und Materialität und erweitert und reaktualisiert so deren Bedeutungspotential.
Semantik der Wirklichkeit
„In den älteren Kunstepochen waren die Zeichen Gemeingut. Sie entstammten der Religion, dem Kultus, der Magie, den Beschwörungen, wo sie gebraucht wurden und von wo sie ihre genaue Bedeutung empfingen. Damit ist es nun heute nichts mehr. Es gibt keine allgemeinen Zeichen mehr – außer im Verkehr.“[5] Zu dieser Erkenntnis, dass Verkehrszeichen die einzigen Zeichen der Moderne sind, die noch Allgemeingültigkeit beanspruchen können, gelangt der deutsche Kunsthistoriker Kurt Badt 1946. Damit verweist er einerseits natürlich auf die Funktionalität des modernen Verkehrszeichens, andererseits aber auch auf das vermeintliche Unvermögen der modernen Kunst, überindividuelle Bedeutungen zu generieren. Otto Neurath, Wiener Philiosoph und Erfinder des modernen Piktogramms, fasste die Funktion seiner visuellen Zeichen präzise zusammen: „Die Zeichen müssen so weit wie möglich für sich selber, ohne Hilfe von Worten klar sein, d.h. sie müssen ‚sprechende Zeichen’ sein.“[6]
Das Verkehrszeichen selbst steht in seiner semantischen Eindeutigkeit dem Symbol diametral gegenüber. Als Träger einer eindeutigen Botschaft mit dem Ziel der klaren Verständlichkeit verringert es die Komplexität, wohingegen das Symbol tiefer liegende Bedeutungs- und Sinnschichten anspricht und die Komplexität erhöht. Moschiks „Signs“, die sich am Vorschriftszeichen „Einfahrt verboten“ orientieren und aus schwarzem Acrylglas gestanzt einmal ein „Eintreten verboten“ und durch Senkrechtstellen des Querbalkens ein „Eintreten geboten“ signalisieren, greifen die Logik der Vekehrsordnung auf und adaptieren sie humorvoll. Die universal verständliche Codierung des Quer- und Längsbalken erlaubt ein Spiel der Bedeutungen, das mit einem Augenzwinkern erneut auf die Geschichte minimalistischer Kunsttendenzen im 20. Jahrhundert verweist.
Die Entwicklung der einheitlichen Verkehrszeichen aus der Idee des Piktogramms verlief parallel zur Entwicklung der geometrisch-abstrakten Kunst und der zunehmenden Codierung ihres Zeichenvokabulars im Konstruktivismus und Suprematismus wie auch am Bauhaus und bei De Stijl. Man könnte formulieren, dass die visionären Ideen der Avantgarde-Künstler von der Verbindung von Kunst und Leben, von der Durchdringung des öffentlichen Raums mit konkreter Kunst, ihre Verwirklichung in den Verkehrszeichen gefunden haben.
Der Stadtraum als kultureller Bedeutungs- und Handlungsträger wird in jüngster Zeit jedoch zunehmend vom digitalen Raum als Anschauungsraum und Ort der Kommunikation abgelöst.[7] Diese Verschiebung hat mit den veränderten Modalitäten der Weltbeobachtung und Realitätswahrnehmung durch die mediale Kommunikation zu tun. Moschiks Arbeiten aus den Serien „Destination“ und „Outer Space“ reflektieren allerdings nicht nur die gewandelte Wahrnehmung der Welt aus einer technologischen Perspektive, sondern auch die damit einhergehenden Aspekte der elektronischen Lokalisierung und der territorialen Kontrolle. Der Blickwinkel aus unterschiedlichen Sichthöhen auf Städte und Kontinente und die grobe Rasterung der Bildmotive versinnbildlichen die Informations- und die Observationsstruktur.
Verletzung der Wirklichkeit
Die Werke der Serie „Screen Burn“ sind wie die Arbeiten aus den Serien „Outer Space“ oder „Destination“ Bilder über Bilder. Moschik findet ihre Motive nicht mehr durch den Gang vor die Tür oder den Blick aus dem Fenster, sondern der Blick in die Tageszeitung oder auf den Bildschirm liefert ihr das Ausgangsmaterial für ihre Werke, und an spektakulären und geschichtsträchtigen Ereignissen mangelt es in der globalisierten Welt ebenso wenig wie an Bildern dieser Ereignisse, deren Zahl ins schier Unermessliche geht. Diese Bilder bezeugen die Ereignisse, kommentieren sie aber nicht, die Kunst hingegen deutet diese Bilder, entreißt sie der alltäglichen Bilderflut und lotet ihre Bedeutung und ihren Kontext aus. Die Kunst wendet sich der Struktur und der Politik der Bilder zu, analysiert deren strategische Dispositive, ergründet die zugrundeliegenden Systeme und erforscht deren ästhetische Dimensionen. Moschik hat für ihre Werkserie „Screen Burn“ wahre Ikonen der massenmedialen Bildproduktion ausgewählt: die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 und den Terroranschlag auf das World Trade Center, der sich unter der Formel 9/11 ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.
Sie reproduziert dabei die Vorlage nicht als eigenständiges Bild, sondern als bereits reproduziertes, als Bild in seiner Reproduziertheit und akzentuiert damit das Spannungsverhältnis zwischen medialem Bild und künstlerischer Aneignung. Es ist eine dreifache Transformation, die sie an den Pressebildern von 9/11 durchführt. Sie entzieht dem Bild die Farbe und überführt es in ein nüchternes Schwarzweiß. Sie ändert die Materialität des Bildes von Papier zu Stahl. Und sie überträgt ein digitales Bild, das aus zahllosen Pixeln zusammengesetzt ist, in ein analoges System aus Punktrastern. Durch die gestanzten Punktraster und das nüchtern-sachliche Erscheinungsbild des Schwarzweiß‘ verbinden wir die Bildtafeln assoziativ mit dem Druckerschwarz und dem schmutzigen Weiß des Zeitungspapiers und damit mit einer Zeit vor der Erfindung des Internets. Moschik gleicht somit die Bilder von 9/11 den Aufnahmen von Hiroshima und Nagasaki an, die noch vornehmlich in Schwarzweiß und via Zeitungen kommuniziert worden sind und evoziert Fragen nach der Struktur und Politk von Bildern und den Ereignissen, die sie dokumentieren. Durch das Schwarzweiß wird das Augenmerk stärker auf das Substanzielle denn auf das Akzidentielle gelegt, mehr auf die Darstellung und dessen Bedeutung denn auf die Darstellung und deren Sinnlichkeit. Jahrhunderte hindurch, seit der Erfindung der Druckgrafik im 15. Jahrhundert, wurden Bilder ausschließlich in Schwarzweiß verbreitet. Das Schwarzweiß suggeriert uns etwas Historisches, etwas Beständiges, etwas Bedeutungsvolles, man ist versucht zu sagen, Zeitloses, obwohl die Ereignisse mit ganz spezifischen Daten verbunden sind.
Jacques Derrida hat im Oktober 2001 in New York ein Gespräch über den Status der Philosophie in Zeiten des Terrors geführt, und dabei über den Charakter der Anschläge in New York etwas Essenzielles ausgesprochen, das in dieser Form auch für die beiden Atombombenabwürfe auf Japan gilt, für den Holocaust der Nazis, den Genozid in Ruanda, das Massaker in Srebrenica und die unzähligen anderen Verbrechen, bei denen der Mensch des Menschen Wolf war. Er nennt das Ereignis ein „Faktum“, das sich dem Verstehen verweigert, an dem unser Versuch der Bewältigung scheitert: „Es selbst, der Ort und die Bedeutung dieses ‚Ereignisses‘, bleibt so unaussprechlich wie eine Anschauung ohne Begriff, wie etwas Einzigartiges ohne Allgemeinheit am Horizont, ohne Horizont, ja, außerhalb der Reichweite für eine Sprache, die ihre Ohnmacht eingesteht und sich im Grunde damit begnügt, mechanisch ein Datum auszusprechen, es wie einen rituellen Gesang, ein verschwörerisches Gedicht, eine journalistische Litanei, ein rhetorisches Ritornell zu wiederholen und damit einzugestehen, dass sie nicht weiß, wovon sie spricht.“[8]
Wir blicken auf etwas, das wir nicht fassen können, dessen tatsächliche Bedeutung uns unzugänglich bleibt. Es scheint, als würden Bilder die namenlose Ohnmacht der Gefühle eingrenzen und entschärfen können, doch steht man bei ihrer Annäherung wie so oft vor dem Problem, Worte für etwas finden zu müssen, das sich in Sprache nur schwer übersetzen lässt.
Moschik arbeitet allerdings nicht nur mit gefundenen Bildern, sondern auch mit gefundenen Texten. Aus Anlass ihrer Ausstellung im Robert Musil-Literaturmuseum in Klagenfurt 2014 hat sie sich eingehend mit dem literarischen Oeuvre des österreichischen Autors auseinandergesetzt. In ihrer Arbeit „Hier ist es schön“ nimmt sie zum Beispiel Bezug auf einen gleichnamigen Text Musils über das spezifische Vokabular, das beim Verfassen von Ansichtskarten zur Anwendung kommt.
Schöne Wirklichkeiten
Musil reflektiert in seinem Essay die tiefer liegenden Beweggründe, die hinter den Superlativen zur Beschreibung der erfahrenen Schönheit zum Tragen kommen. Er konstatiert, dass die erlebten Orte und Landschaften für die Menschen immer „unbeschreiblich“, „unvorstellbar“ oder „überlebensschön“ sind und vermerkt, dass „wenn etwas nicht etwas ist, sondern bloß schön, dann würgen sie wie an einem großen, glatten Bissen, der nicht hinauf- und nicht hinabgeht, der zu nachgiebig ist, an ihm zu ersticken, und zu unnachgiebig, als daß man ein Wort hervorbringen könnte.“[9] Moschik hat genau diesen verbalisierten Klos im Hals, das grausam unspektakuläre „Hier ist es schön“, aus schwarzem Acrylglas gestanzt und im Ausstellungsraum installiert. Zwei schwarze Aluminiumbalken lehnen links und rechts davon an der Wand, begrenzen den Schriftzug und markieren den so ausgezeichneten Raum. Die attributierte Schönheit mag sich auf die spezifische Wand, den Ausstellungsraum, die Ausstellung selbst, den jeweiligen Ort oder das Land beziehen, wobei sich der jeweilige Raum der Präsentation in der reflektierenden Oberfläche des schwarzen Acrylglases spiegelt.
Die apodiktische Feststellung „Hier ist es schön“ konfrontiert den Betrachter mit einer in der zeitgenössischen Kunst obsolet gewordenen Frage, gehört doch die Schönheit zu jenen „Selbstverständlichkeitsverlusten“, durch die die Moderne ganz wesentlich gekennzeichnet ist. Die Verwendung von Schrift und das An-der-Wand-Lehnen von Objekten, die zwischen Bild und Skulptur oszillieren, geht auf die minimalistische und konzeptionelle Kunst der 1960-er Jahre zurück und auf Künstler wie Lawrence Weiner und John McCracken. Dies ist insofern von Relevanz, da die Qualifizierung und Markierung eines Ortes als „schön“ im Kontext dieser Kunsttendenzen undenkbar wäre, was die feine Ironie zeigt, mit der Moschik die Arbeit im imaginären Raum zwischen Literatur, Kunstgeschichte, Ästhetik und Soziologie verortet.
Das Ende der Welt
In „Tangle Foot“ nimmt Moschik erneut Bezug auf einen Text von Robert Musil. In seiner Erzählung „Das Fliegenpapier“ schildert Musil das verhängnisvolle Klebenbleiben einer Fliege auf eben jener Insektenfalle und ihr langsames Abfinden mit der Unentrinnbarkeit der Situation. Der Begriff „Tangle Foot“ entstammt der Erzählung und bezeichnet ein in Kanada produziertes Fliegenpapier, das als Folie für den metaphorischen Überlebenskampf dient. Moschik hat einen wirkmächtigen Satz aus diesem Text herausgegriffen, in eine schwarze Acrylglasplatte gestanzt und die herausgeschnittenen Buchstaben auf den Boden unter die Tafel gelegt: „Und dann kommt der immer gleich seltsame Augenblick, wo das Bedürfnis einer gegenwärtigen Sekunde über alle mächtigen Dauergefühle des Daseins siegt.“
Der Satz beschreibt jenen entscheidenden Moment, in dem das Bewusstwerden der Aussichtslosigkeit, das Erkennen der eigenen Ohnmacht und das Akzeptieren der Unausweichlichkeit des unmittelbaren Todes kulminieren. „Es ist der Augenblick, wo ein Kletterer wegen des Schmerzes in den Fingern freiwillig den Griff der Hand öffnet, wo ein Verirrter im Schnee sich hinlegt wie ein Kind, wo ein Verfolgter mit brennenden Flanken stehen bleibt.“[10] Elisabeth Kübler-Ross hat in ihrem Buch „Interviews mit Sterbenden“ fünf Phasen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben konstatiert: die Verleugnung, den Zorn, das Verhandeln, die Depression und schließlich die Akzeptanz. Musil hat mit der Metapher des Fliegenpapiers Worte für dieses Akzeptieren des Unausweichlichen gefunden, für dieses Sich-Aufgeben in die Hand des Todes, und Moschik hat diese Worte in das dauerhafte Medium der Kunst übertragen.
Wir alle werden sterben und werden über kurz oder lang diesen „seltsamen Augenblick“ erfahren, in dem „alle mächtigen Dauergefühle des Daseins“ nichtig werden. So einfach und klar diese Aussage ist, so kompliziert wird das Nachdenken über die Bedeutung des Todes. Was kann man sich unter ihm vorstellen? Ein mehr oder weniger vertrauter Körper zerfällt, verschwindet, eine Stimme verhallt, ein Geruch verweht. Jacques Derrida schreibt, dass mit dem Tod eines Menschen nicht nur ein Leben zu Ende geht, sondern dass der Tod „ jedes Mal das Ende der Welt in ihrer Gesamtheit, das Ende jeder möglichen Welt, und jedes Mal das Ende der Welt als einer einzigartigen, also unersetzlichen und also unendlichen Gesamtheit“ erklärt.[11] Das symbolische Einwilligen der Fliege in das eigene Sterben bedeutet die Zustimmung zum Ende der Welt.
„Der Gedanke des Todes ist unannehmbar“ wie der französische Philosoph Clement Rosset geschrieben hat. Der Text von Robert Musil und die bildnerische Übersetzung von Melitta Moschik sind ein Versuch, das Unfassbare in eine Fassung der Erträglichkeit zu überführen.
Postscriptum
Melitta Moschik setzt sich in ihren Arbeiten mit den veränderten Wahrnehmungs- und Repräsentationsmodalitäten von Wirklichkeit durch den Einfluss der neuen Medien auseinander. Die hypertrophe Produktion und Distribution von Bildmaterial, die visuelle Struktur von Benutzeroberflächen, der virtuelle Raum als neuer Kulturraum sind einige Aspekte, die sie in der formalen Logik und technischen Ästhetik ihrer Themen umsetzt. Desweiteren analysiert Moschik in ihrem Werk die Entwicklung vom Bild zum Zeichen, lotet dessen Bedeutungsvalenzen aus und reflektiert unter dem Stichwort der Ikonisierung die Zeichenwerdung von medialen Bildern. Dass unseren Bildern und Zeichen von Wirklichkeit Mechanismen der Kontrolle und Strukturen der Macht zugrunde liegen, wird allzugerne vergessen und von Moschik subtil an die Oberfläche gebracht.
Roman Grabner, 2015
[1] Vgl. Paul Watzlawick, Vorwort. In: Paul Watzlawick (Hg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München 1981, S. 9-11, 10.
[2] Francisco Varela, A calculus for self-reference. International Journal of General Systems 2, (1975), S. 5-24, 22. “In finding the world as we do, we forget all we did to find it as such, and when we are reminded of it in retracing our steps back to indication, we find little more than a mirror-to-mirror image of ourselves and the world.”
[3] Heinz von Foerster zitiert nach: Ernst von Glasersfeld / Edith Ackermann, Dialoge – Heinz von Foerster, zum 85. Geburtstag. In: Albert Müller (Hg.), Konstruktivismus und Kognitionswissenschaft. Kulturelle Wurzeln und Ergebnisse. Heinz von Foerster gewidmet. Wien 1997, S. 43-54 , 43.
[4] Max Bense, Technische Existenz. In: Max Bense, Ausgewählte Schriften. Bd. 3. Ästhetik und Texttheorie, S. 122-158, 122.
[5] Kurt Badt, Picasso, der Maler des Nichts. In: Die Weltwoche 14/668 (30. August 1946), Beilage Literatur und Kunst, S. 5.
[6] Otto Neurath, Internationale Bildersprache (1937). Zitiert nach: Frank Hartmann/Erwin K. Bauer, Bildersprache. Otto Neurath. Visualisierungen. Wien 2002, S. 66.
[7] Vgl. Melitta Moschik, zitiert nach: Destination Wien. Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien. Wien 2015
[8] Jürgen Habermas / Jacques Derrida, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt und kommentiert von Giovanna Borradori. Berlin / Wien 2004, S. 118.
[9] Robert Musil, Hier ist es schön. In: Ders. Nachlaß zu Lebzeiten. Reinbek bei Hamburg 1981, S.
[10] Robert Musil, Prosa, Dramen, späte Briefe. Hg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1957, S.450f.
[11] Jacques Derrida, Jedes Mal einzigartig. Wien 2003, S. 11.